Leben auf den Gräbern der Toten

Kairos Totenstadt hat kaum noch Platz für die Ärmsten der Armen

 

 

Professor Mursi hatte Herrn P. vor der Kairoer Totenstadt gewarnt, in seiner leisen nachdrücklichen Art, die ihm immer so angenehm gewesen war. "Fremde sieht man dort nicht gern. Man fühlt sich ihrer Neugier ausgeliefert. Seien Sie vorsichtig. Es passiert immer wieder, dass Menschen verschwinden, meist Ausländer. Sie werden sich erinnern." Natürlich erinnerte sich Herr P. Als er in Kairo lebte und arbeitete, gab es in den Zeitungen immer wieder Nachrichten, dass Besucher nicht zurückkehrten. Auch von Raub und Überfällen wurde berichtet. Herr P. war kein ängstlicher Mensch. "Die Kamera", sagte Mursi, "die lassen Sie besser im Hotel. Und etwas Geld nehmen Sie mit, falls ein Bakschisch gefordert wird, am besten ein paar Dollar."

Der Himmel über der Millionenstadt verhangen. Kairo stank nach Auspuffgasen. Doch die Stadt roch auch nach frischem Brot und scharfen Gewürzen. Der Mokattam, dieses Gebirge am Rande der Stadt im Norden, dem er entgegen fuhr, wirkte wie eine Feste. Steile felsige Wände in Ocker und Beige. Davor stießen schlanke Minarette in den Himmel, wölbte sich die große Kuppel der Mohammed-Ali-Moschee, stiegen die Mauern der Zitadelle, dort am Fuße des Mokattam lagen die Friedhöfe der Mohammedaner, genauer, es waren zwei. Das Außergewöhnliche: in der Totenstadt, die es so wohl nirgends auf der Welt noch einmal gab, in ihr lebten Menschen. Sie hatten sich zwischen Gräbern, Grabsteinen und über Grabplatten eingerichtet, bewohnten die Totenhäuser über den Gräbern. Das geschah illegal. Es gab verwirrende Schätzungen. Von 100 000 bis 150 000 Bewohnern in der Totenstadt ist die Rede und mehr. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand. In Kairo gab es keine Meldepflicht. Mursi meinte: Der Zustrom in die Totenstadt habe etwas abgenommen, weil kaum noch Platz vorhanden sei. Kairo stehe vor einem Dauerkollaps. Etwa acht, neun Millionen lebten in der Stadt.


Herr P. hatte die Ibn-Tulun-Moschee besucht, eine der ältesten Moscheen Kairos. Sie soll von 876 bis 879 erbaut worden sein. Die Überlieferung hat sie ins besondere Licht gehoben. Hier wollte Abraham seinen Sohn Isaak Gott opfern. Gott lehnte das Opfer ab. Herr P. war über die Stiege, die sich um das Minarett wand, zur Spitze gelangt, hatte auf die Kuppeln und Minarette geschaut, auf die Hochhäuser, die sich entlang des Nils tummelten, hatte auf die "rücksichtslos ausgebreitete Großstadt, da ist das ganze, bis zur Trübe dichte arabische Leben" geschaut (R. M. Rilke 1911). Angekommen, bat er den Taxifahrer zu warten. Nachdem der sein Geld erhalten hatte, gab er Gas, als müsse er Ungeheuern entkommen.

Eintreten. Angenehm warm, keine Menschen. Stille. Eine schmale asphaltierte Straße, eingeschossige Gebäude, verschlossene Türen und Fenster, zerzauste Palmen. Die ersten schmalen Grabsteine, viele stark verwittert, einige mit frischer Schrift bedeckt, Zeichen, dass hier nach wie vor beerdigt wurde. Herr P. zum dritten Mal in der Totenstadt, war doch etwas aufgeregt. Ein Fahrrad, dem das Hinterrad fehlte, lehnte an einem Grabstein, ein Papierbecher auf einer Grabplatte. Wer in der Totenstadt einen Platz zum Leben fand, dem wird es kaum gelingen, diesem Ort zu entrinnen. Selbst in den Slums der Altstadt sind die Mieten zu teuer. Von den Müllmännern Kairos abgesehen, leben hier die Ärmsten der Armen. Im flimmernden Licht ein Bau mit mehreren Kuppeln, ein Mausoleum, ein Minarett, stark verfallen. Vorsichtig setzte er seine Schritte, schaute in enge Gassen. Wann endlich bekam er einen Bewohner zu Gesicht?

Die Anfänge der Totenstadt lagen in tiefer Vergangenheit. Mehrere Jahrhunderte war das Friedhofsareal muslimischen Herrschern und Eroberern vorbehalten. Es befand sich in der Wüste, weit außerhalb Kairos, die Kalifengräber im Norden, im Süden die Gräber der Mamluken und Tscherkessen. In den Grabmoscheen liegen bedeutende Herrscher wie Inal, die Sultane Barkuk, Bars Bai und Kait-Bai. Emire, Mamluken, Prinzen und Prinzessinnen fanden in geräumigen Mausoleen ihre letzte Ruhe. Fast alle Kairoer Herrscherdynastien sind hier mit ihren Totengebäuden vertreten, die Fatimiden, die Ägypten eroberten und Kairo 972 zur Hauptstadt erklärten. Sie gründeten die El-Azhar-Universität, das Zentrum islamischer Lehre. Ihnen folgten die Ayyubiden, Osmanen. Es dauerte eine Weile, ehe Herr P. die Grabmoschee des Kait Bai fand. Mursi meinte, sie sei die schönste. Als sie erbaut wurde, begann in Europa die Renaissance-Zeit. Ein hohes schlankes Minarett, von ausgekragten Ringen umgeben und von einer Laterne abgeschlossen. Daran schloss sich das Mausoleum an, die Kuppel mit Arabesken verziert. Leider war das Gotteshaus verschlossen. Hier endlich begegnete Herr P. einem alten Wächter. Er wusste den Namen der Grabmoschee, sonst nichts, setzte sich wieder in den Schatten und blinzelte. Natürlich wünschte er einen Bakschisch. Glücklicher Mensch, den kann nichts erschüttern.

Bereits Anfang des 20.Jahrhunderts sollen sich die ersten Ägypter, die zumeist vom Lande kamen, nahe den Gräbern angesiedelt haben. Der Sturm zum Fuße des Mokattam setzte im Sechs-Tage-Krieg ein. Die verheerende Niederlage der Araber und die Angst vor Israel lösten einen Sturm auf Kairo aus. Dort gab es kaum Platz für sie. Tausende siedelten sich illegal am Fuße des Mokattams an. Die mehrere Kilometer lange Gräberstadt bot ihnen Unterkünfte. Der Versuch der Behörden in den sechziger Jahren, die Menschen zu vertreiben, misslang. Sie waren weder mit Drohungen noch Nötigungen zu vertreiben. Wo sollten sie auch hin. Schließlich gaben es die Behörden auf, die Menschen zu verjagen. Ein kleines Wunder geschah. Eine Wasserleitung wurde in die Totenstadt geführt, ein elektrischer Anschluss gelegt.

Endlich ein paar Leute. Eine Frau wusch auf einer Grabplatte Wäsche. Mehrere Hühner spazieren zwischen Grabstelen. Auf der Leine, die zwischen den Grabsteinen gezogen war, hingen Tücher, Hemden und T-Shirts. Die Frau würdigte Herrn P. keines Blickes. Kinder, sehr zurückhaltend, folgten Herrn P. in gebührendem Abstand, in einer Tischlerei wurden Bänke, Stühle und niedrige Schränke hergestellt. Ein verrosteter PKW, ein Fiat, ohne Räder und Türen. Wer es nicht wusste, könnte glauben, die meist eingeschossigen Gebäude seien Wohnhäuser. Aber sie waren nicht zum Wohnen erbaut, sondern sie standen über Gräbern. Satelitenschüsseln auf den Dächern und an den Fassaden. Inzwischen befand sich in der Totenstadt eine Polizeistation, eine Post. Es gab kleine Läden, Teestuben. Bewohner hatten sogar die Einrichtung einer Schule gefordert. Daraus ist nichts geworden. Manche behaupten, dass es sich in der Totenstadt besser lebe als in den engen stickigen Gassen Kairos, in denen es von Menschen, Ratten und Kakerlaken wimmelte. Wird eine Grabstätte für einen Toten benötigt, die bewohnt ist, dann ziehen die Bewohner für einige Stunden aus. Der Islam gestattet, mehrere Tote in ein Grab zu legen. Wichtig ist, dass der umwickelte Körper - es gibt keine Särge - nicht auf der Erde liegt und bedeckt ist. Auch an Festtagen sind Auszüge notwendig, wenn Verwandte auf den Gräbern der Toten gedenken, essen und trinken.

Delaus Reise-Blog, Ägypten-Reprotagen

 

Gehen, über Schotter, Staub und Dreck. Grabplatten und filigrane Stelen, Kuppeln über Mausoleen. Gelegentlich üble Gerüche. Ein Straßenstand, Brot Gemüse und Orangen, Tomaten und kurze dünne Bananen. Tatsächlich ein Straßencafé. Wacklige Plastestühle, runde Metalltische. Herr P. nahm Platz. Fünf alte Männer tranken Tee und legten lange Schweigepausen ein. Er war ihnen völlig uninteressant. Das war hier anders als in der lauten Stadt. Dort hatte er meist Freundlichkeit erfahren, wenn er ein Kaffeehaus aufsuchte. Er bestellte einen Tee und ließ sich Zeit. Die Warnung Mursis erschien ihm doch etwas übertrieben.

Herr P. musste lange gehen, ehe ein Taxi hielt. Rückfahrt ins Stadtzentrum, vorbei an den Resten des zerfallenen Aquädukts, das Wasser zur Zitadelle geführt hatte, dem Nil entgegen. Abends wird Mursi fragen. "Haben Sie Ihr Kairo, das Sie so geliebt haben, wieder entdeckt?" Herr P. verneinte und Mursi klagte. "Die Tage des Zorns und der arabische Frühling haben Ägypten nichts gebracht. Die Enttäuschungen sind groß. Nichts oder so gut wie nichts wurde in den vergangenen Jahren entschieden. Die Stadt ist wild bis an die Pyramiden heran gewachsen und ufert in die Wüste aus. Die Revolution bestraft ihre Kinder. Der Riss, der das Land spaltet, ist tief. Wirtschaftlich geht es schon lange begab." Herr P. hatte es gesehen. Tausende von Booten und Motorschiffen verrosteten an den Ufern des Nils, weil Touristen ausblieben, Tausende leer stehende Häuser, weil sie ohne Genehmigung errichtet wurden. Schon werden Kamele geschlachtet, weil ihre Besitzer sie nicht mehr ernähren können. Es ist, als hätte Ägypten eine Sintflut heimgesucht.

 

Mursi glaubte nicht, dass es die Militärs richten werden, auch nicht Abdel Fatah al Sissi, der neue Präsident. Herr P. schätzte den Mann, der als Professor einige tausend ägyptische Studenten ausgebildet hat. Und zur Totenstadt wusste er zu sagen: Dort leben nicht die Ärmsten, jene, die mitten in der Nacht ihre erbärmlichen Behausungen am Fuße des Mokattams verlassen, um Kairos Müll zu entsorgen, sind schlimmer dran." Er goss Herrn P. Tee ein, der nach Minze duftete. "So zubereitet", sagte er, "wird er immer seltener selbst in den Straßencafés. Man begnügt sich mit schwarzem Beuteltee." Und Herr P. sah, wie ihn das entsetzte. Vor ihnen lag der kleine Garten, in dem die Malven blühten und in den Kronen der alten Mangobäume ein leiser Wind die Blätter streichelte. "Es wird viel über die Totenstadt behauptet", fuhr Mursi fort, "dort sollen Jugendliche zu Taschendieben ausgebildet und zu Krüppeln täuschend ähnlich hergerichtet werden, um erfolgreicher betteln zu können. Ob das stimmt, wage ich zu bezweifeln."

Als sich Herr P. verabschiedete, sagte er: "Schön, dass sie wieder heil zurück sind. Meine Warnung war wohl doch unangebracht."

// Texte und Fotos: Reinhard Delau.