Singapur fehlt ein Gedächtnis

Delaus ReiseBlog.SingapurReportagen

 

Dresden, Nacht, 2.,3. November 2008

 

Bevor Herr P. auf Reisen ging, entdeckte er einen Satz bei Daniel Kehlmann in „Die Vermessung der Welt“, der ihn aufregte. “...auch als Davongekommener erhole man sich nicht von der Nähe der Fremde.“ Diesen Satz spricht der berühmte Forscher Georg Forster, der mit James Cook die Welt umrundet hatte. Kann Nähe zur Fremde belästigen, gar quälend werden? Oder ist es nicht vielmehr ein Glück, wenn Fremde zu Nähe wird. Dies fragte sich Herr P. um 23.57 Uhr.

Morgen früh wird er nach Singapur fliegen. Ein Bekannter war vor zwei Jahren dort gewesen. „Eine sterile Stadt“, hatte er behauptet. „Tatsächlich kaum eine Kippe auf der Straße. Und vor Rot wartet man geduldig, auch wenn die Straße völlig leer ist.“ - "Gibt es dort leere Straßen?“, hatte Herr P. gefragt. - „Oh, ja, spät abends, unweit des berühmten Hotels Raffles.“ Man verrenke sich den Hals, weil man ständig den Kopf recken müsse, um an den Fassaden der skyscraper hochzuschauen. Da ziehe er sich Dresden vor. Hier gehe es niedrig zu. Herrn P. entging die Zweideutigkeit des letzten Satzes nicht. Er müsste etwas schlafen, um morgen munter zu sein. Dresden-Frankfurt-Singapur. Als er sich gegen 2 Uhr hinlegte, fragte er sich, warum er wieder auf Reisen ging. Es war wie ein Stoff. H. hatte einmal gemeint. „Deine Reisen sind wie Opium." Und einen Augenblick verspürte er keine Lust dazu. Was wollte er in Singapur? Warum trieb ihn die Reisegier wieder davon? Strapazen würden unvermeidlich sein, die ständigen Nudelsuppen, die Gerüchte nach Reis, die Hühnerbeine. Und gewiss unangenehme Erlebnisse.Vor zwei Jahren hatte er Kinder in Laos beobachtet, die im Dreck einer verrosteten Tonne nach Essbarem suchten. Aus der Tonne quoll Gestank. Herr P. hatte einen Wutanfall bekommen. „Es ist zum Kotzen hatte er geschrien, zweimal, dreimal. Europa lebte im Überfluss und barmte. Und er sah die gefüllten Regale der Discounter vor sich, die glitzernden Verpackungen, die bunten Aufschriften, die weiß gedeckten Tische voller Speisen bei Empfängen. Eine ganze Weile war so etwas wie Hilflosigkeit in ihm, bis er die Gedanken und Vorstellungen wegschob wie lästiges Laub, das auf Bürgersteigen lag. Er wird sich abends mit einem guten Fischessen in einem teueren Restaurant bestrafen. Zyniker. Er war egoistisch genug, um zu wissen: Mit solchen Vorstellungen kann man nicht leben.

 

Früh

 

Vier Uhr aufgestanden. Nur zwei Stunden geschlafen. Trotz Müdigkeit hellwach, starkes Herzklopfen. Pass, Geld, US-Dollar und Euro, Visakarte, alles am rechten Ort, in mehreren Taschen der geliebten grünen Reisejacke verteilt. Grau und kalt. H. fuhr ihn zum Flugplatz. Sie ist nervös. „Deine Reisen“, sagte sie. Wenig Verkehr. Drei Tage will er in Singapur bleiben, vielleicht auch vier. Dann weiter nach Malaysia. Solange er denken kann, will er nach Malaysia. Mit 14 hat er ein Buch gelesen, das von der frühen Kolonialzeit der Engländer handelte. Die Helden starben in den Wäldern und Kokosplantagen. Er hatte mit ihnen gebangt und die weißen Männer gehasst. An den Titel erinnert er sich nicht mehr. Auch dieses Buch ist dran schuld, dass er immer wieder aufbricht. Er hat sich eine Knackwurst mitgenommen und ein Doppelschnitte mit Leberwurst gestrichen. Das Essen auf dem Frankfurter Flugplatz lockte seinen Gaumen wenig.

 

Pünktlicher Start in Dresden, pünktliche Ankunft in Frankfurt. Herr P. flog eine Maschine eher, um den Anschluss nicht zu verpassen. Er flog mit Quater Airways. Die Stewardessen trugen rote Hosenanzüge und rote Käpis. Als die Triebwerke aufheulten, die Maschine beschleunigte und Herr P. in den Sessel gedrückt wurde, wusste er, dass er lächelte. Es war ein sehr zufriedenes, eitles Lächeln, ein Selbst-Lob-Lächeln. Dem Schreibtisch entkommen, dem Novemberwetter, den tristen, feuchten Tagen. Und wieder eine Reise aufs Geradwohl, nur grob geplant. Und es war ihm, als spanne sich ein Schirm auf, der ihn davon trug. Irgendwo über den Wolken unter kaltem klarem Blau schlief er ein.

 

3.November 11. Singapur gegen Abend

 

Die Ankünfte in unbekannten Städten und Ländern ähneln sich. Er hatte das Gefühl als torkele er über die Schale einer runden Frucht, aber beträchtlich verkleinert, wie ein Zinnsoldat. Die Haut war orange, und duftete wunderbar. Aber sie war glatt, sehr glatt. Er hatte diesmal die Ankunft verkürzt, hatte bereits in Dresden ein Hotelzimmer im Internet gebucht. Teuer. Er schaute aus dem 15 Stock. Hochhäuser, etwas Grün. Hinter einer massigen Fassade kam ein Flüsschen zu Vorschein, das sich dahinwand wie ein überlanger Wurm, bleidunkel, einige breitkronige Bäume am Ufer. Am Tresen wird man ihn aufklären: Das sei der Singapur River, leider sehr eingezwängt hier. Dort, wo die Stadt ihren Anfang nahm, fließt er breiter, schöner. Der Taxifahrer hat ihm für den Abend einen Tipp gegeben. Im Orchard Tower werde er sich besimmt nicht langweilen. Dort treffe sich alle Welt. Und er lächelte fein, schob Herrn P´s Visakarte in einen Schlitz, reichte ihm einen Beleg, sieben Singapur-Dollar. Preiswert, sehr preiswert. Zu Hause wären da gut 15 Euro fällig gewesen. Via Satellit, das Geld war auf seiner Bank abgebucht. Das war in Dresden nicht möglich. Asien, das immer noch als Hinterhof in einer kleinen Kammer seines Kopfes rumspukte, hatte Herrn P. eine Lektion erteilt.

 

 

Orchard Tower. Ein Großkomplex. Auf mehreren Etagen Vergnügungen aller Art. Musik, Bars, Massagesalons, Restaurants, Cafés, hübsche Mädchen, die auch nach Alten Ausschau hielten. So prüde, wie es in den Reiseführern zuging, schien Singapur nun doch nicht zu sein. Nun gut, keine Kippen auf den Straßen, aber Mädchen waren zu haben.

 

Nach der Rückkehr stand Herr P. lange am Fenster. Ein dunkler blauer Himmel wölbte sich. Hochhäuser waren hell erleuchtet, darin kleine Rechtecke, die Schießscharten glichen. Die angestrahlten Metallfassaden hatten etwas Unwirkliches, Abweisendes, obwohl sie zum Greifen nahe waren. Er war schon über die Abendgespräche erstaunt. Singapur schaute nach Amerika. Obama oder McCain. Wer gewann die Wahlen in den USA? Einer, wohl ein Inder, sagte: „Die Amerikaner werden vor ihren eigenen Umfrageergebnissen erschrecken. Wartet es ab. Es gibt keinen Wechsel. Ein Schwarzer im Weißen Haus, nein.“ Herr P. horchte. Nein, der Singapur River murmelte nicht, aber Scharrgeräusche waren zu hören. Die Fieder der Kokospalmen vor dem Hotel rieben aneinander. Vier Millionen sollen in dieser Stadt wohnen, in der Land kostbarer war als Süßwasser.

 

Singapur, 4. November

 

Herr P. gab sich dem Taxifahrer zu erkennen. „O, aus Germany, „willkommen.“ Und dann hörte er ein paar Sätze, die er nun wirklich nicht erwartet hätte. „Sie haben doch eine Frau als Regierungschefin, Frau Merkel, nicht wahr? Können Sie mir erklären, warum sie sich so gern auf den Schoß von Bush setzt? Sie kommt doch aus dem kommunistischen Osten.“ Herr P. konnte das nicht erklären. Aber der Mann hatte ganz offensichtlich eine Meinung über die Kanzlerin. Und als Herr P. am Singapur River ausstieg, verabschiedete er sich: “Wir lieben die Amerikaner nicht. Sie drangsalieren die ganze Welt und leben wie Schmarotzer. Aber wir sind wie Affen. Wir machen es ihnen nach.“

 

Wieder im Hotel. Der eingemauerte Fluss. Am anderen Ufer eine schimmernde Wand aus Glas, Metall, vierzig, sechzig, ja achtzig Stockwerk hoch, wie eine Gebirgswand, aber auf Hochglanz poliert. Wahrscheinlich Bank-und Versicherungspaläste, Konzernsitze.

 

Singapur hat es zu einem der führenden Finanzzentren Asiens gebracht. Erstaunlich, was aus dem einstigen Sumpfgelände geworden ist. Der Gründer, aus Marmor, steht auf einem Sockel, in enger Knie- und Wadenhose, die Arme verschränkt, sehr energisch, sehr männlich, sehr schlank, sehr englisch: Sir Thomas Stamford Raffles. Am 18.Januar 1819 landete er mit 300 indischen Soldaten an der Küste Singapurs und rammte die britische Fahnenstange in den sumpfigen Boden. Ein paar Fischer lebten am Ufer des Flusses, Malaien, Chinesen, Piraten und Gambir-Pflanzer, die einen organischen Farb- und Gerbstoff gewannen, Opium- und Seidenhändler. Dort, wo das Hotel Raffles steht, soll er die Insel betreten haben. Weniges aus der englischen Kolonialzeit blieb von der großen Abbruchlust verschont; das alte Parlamentsgebäude im klassizistischen europäischen Still, das Rathaus. Raffles hatte einen sicheren Blick für Zukunft. Das Terrain eignete sich für Handel und Kolonialisierung. Er behielt recht, obwohl man im fernen London nichts von der Insel wissen wollte. Bald gab man an der Themse nach. Singapur wurde Kronkolonie.

 

Spaziergang am Singapur River. Viel Sonne, heiß. Das Asien Zivilisation Museum. Davor Schüler in Schuluniform. Eine Lehrerin sprach über Singapurs Geschichte. Bänke am Ufer. Kaum Touristen. Auf dem Fluss verkehren nachgebaute chinesische Daus. Sie gleiten lautlos über das braungrüne Wasser. Herr P. hatte alle Zeit der Welt. Aber eine unerklärliche Unruhe saß in ihm. Sie war ihm lästig. Er will schauen, nichts als schauen, will in die fremde Stadt gleiten wie ein Segelboot in einen fremden Hafen. Warm, sehr warm. Er schwitzte. Zitronengelbe Wolkenhaufen über der Stadt. Er setzte sich auf eine Bank, machte ein paar Notizen. Er wünschte Ruhe. Sie verführte zum Denken. Als er kurz nach der Wende in Toronto war, hatte er die Wolkenkratzer bestaunt, ihre farbigen Fassaden, ihre Türme. Aber gefallen haben sie ihm nicht. Diese Höhen bedrückten ihn, ja, sie erschreckten ihn wie ein unerwarteter Knall. Eines aber bewunderte er: die Ingenieurleistung, die solche Gebäude entstehen ließ. Wird es ihm ähnlich in Singapur ergehen?

 

An der Cavenag-Brücke dösen alte Tretwagenfahrer. Sie langweilten sich, gähnten, zeigten ihre zahnlosen Mäuler. Einer hupte unentwegt. Aber keiner wollte einsteigen. Ihre Tretwagen muteten an, als seien sie mehr als hundert Jahre alt. Auf der anderen Seite des Flusses das Fullertonhotel, ein hässlicher massiger Bau. Herr P. ging über die Brücke, eine Eisenkonstruktion, kehrte wieder zurück, setzte sich in den spärlichen Schatten eines Baumes. Diesmal hatte er sich einen Flasche Mineralwasser mitgenommen. Das Wasser war lauwarm.

 

In Singapur, hatte Herr P. gelesen, lebten ca. 4 Millionen Einwohner. U-Bahnen glitten in den Röhren. Baugrund wurde und wird dem Meer abgerungen. Der Stadtstaat wuchs weiter auf aufgeschütteten Baugründen, die dem Meer abgetrotzt wurden. Der Schiffbau sorgte für Arbeit. Reeder aus aller Welt vertrauten ihre Schiffe den Dockarbeitern an. Herr P. kehrte um, ging über die Bogenbrücke ans andere Ufer. Dort hatte man einige Hafengebäude, Speicher und Kontore stehen lassen. Dicht an dicht standen sie, mit kräftigen Farben bemalt. Es roch nach Fisch und Fleisch. Zeit für ein leichtes Mittagsmahl. Er setzte sich in ein Restaurant, schaute auf den Fluss. Braun, ja bronzen spiegelte es sich im Wasser. Die Gläser auf der weißen Tischdecke funkeln. Er bestellte Fisch, red snaper, wird unvernünftig, will Bier (never before sunset), streckte die Beine aus, wartete, dass ihn endlich Gelassenheit berührte, in ihn einzog, ihn umhüllet wie Seide. Nur nichts erzwingen, ermahnte sich Vielleicht dauerte es auf dieser Reise etwas länger, ehe er zu erleben begann, ehe er Bilder versenkte. Es wird schon, tröstete er sich.

 

Singapur, 5. November

 

Kreuz und quer durch die Stadt, zu den Docks, die kilometerweit dem Ufer folgten, ans Wasser, zum Hafen, zu Baustellen, Fahrt mit U-Bahnen, mit Bussen. Heftige Regengüsse prasselten nieder. Singapur dampfte wie aus einem großen Waschzuber, Singapur schwitzte. Es wurde nicht besser. Herr P. balanziert über die Orangenschale. Chinatown war ein steriles Hochhausviertel. Nur wenige alte Straßenzüge blieben erhalten. Ins Raffles Hotel, das alle Reiseführer anpriesen, ließ man ihn nicht herein, weil er kein Oberhemd trug.

 

Raffles Place, das Zentrum der Stadt. Gigantische Wolkenkratzer, riesige Hallen, Marmor und schwarzer Stein, kleine Plätze voller Grün, geschmückt mit großen Metallplastiken. Einen Salvador Dalí hat man sich geleistet. Unterirdische Verkaufspassagen. Selbst in Singapurs entfernten Vororten geht es zwanzig, dreißiggeschossig zu. Es war fast alles abgerissen worden. Platz musste geschaffen werden für Hochhäuser. Die Menschen wollten untergebracht sein. Es gab hier keine Obdachlose, keine Bettler. Wer sich in dem Stadtstaat eine Villa leisten konnte, der war Millionär. Akheraad, ein Journalist, sagte: „In Singapur gibt es keine Slums, keine Wellblechhütten, keine Bettler“. Er war stolz darauf. Aber dann fügte er hinzu: „Wirklich schön ist es nur am Fluss, nach der Arbeit, abends, in den Pups, Cafés. Er hatte eine Flasche Whisky bestellt, ein paar Freunde waren gekommen, zwei Kollegen, Bankangestellte, zwei Architekten. Sie waren neugierig. Herr P. musste erzählen, vor allem von der Ostzeit, Ostzeit, sagen sie. „Und wie war´s mit den Russen? Haben sie euch sehr geknechtet?“ Er selbst erfuhr wenig, er hatte den Eindruck, als würden sie Fremden nicht gern etwas erzählen. Akheraad Freunden ginge es gut, sie hatten Arbeit, fühlten sich anständig bezahlt, bekämen Urlaub. Von Kunst, Kultur, Theater wurde nicht gesprochen. Auch nicht über Geld. Man hatte es. Und das sei angenehm. Der Fluss glühte in roten Kupfertönen. Lichter blitzten auf, glommen über der Wasserfläche.

 

Spät abends glaubte Herr P. zu wissen, was ihn an der Stadt störte. Sie hat ihr Gedächtnis verloren. Die Vergangenheit war ihr bis auf wenige Reste abhandengekommen, war von den steinernen Türmen erschlagen worden. Vielleicht fand er deshalb nicht die ersehnte Ruhe, die Gelassenheit des Reisens, die er so liebte. Es hielt ihn nichts in der Stadt. Er wird morgen abreisen, einen Tag eher als vorgesehen. Er rief die Rezeption an, fragte, wie er am besten nach Kuala Lumpur, in die Hauptstadt Malaysias, gelangen könne. Man werde sich erkundigen, versicherte eine Frauenstimme. Er war sicher, dass dies geschehen wird.

 

November 2008

 

Dlaus ReiseBlog.SingapurReportagen
Reste des alten Singapurs, vor dem Abriss bewahrt.

// Texte und Fotos: Reinhard Delau.