REISE NACH mAROKKO VON TERRORANSCLAG ÜBERSCHATTET
Herr P. hatte schon länger vor, nach Marrakesch zu reisen. Gerade jetzt, da es in einigen arabischen Ländern brannte, blieb es im Königreich Marokko ruhig, vielleicht, weil sich König Mohammed
VI. beeilt hatte, etwas von seiner Macht abzugeben. Das Land hatte früher zu Herrn P´s Sehnsuchtspunkten gehört, wie Ägypten und Griechenland, Rom und Spanien, Aachen und das Rheintal. Inzwischen
haben sich einige Sehnsuchtspunkte abgerieben, einige sogar ihren Glanz verloren. Er glaubt den Grund zu kennen: Sie sind ohne weiteres erreichbar. Marrakesch nicht, Marrakesch legte in den
zurückliegenden Jahren zu. Herr P. konnte nicht ahnen, dass es eine Woche voll entsetzlicher Ereignisse werden sollte.
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Rotbraunes Marrakesch
Landeanflug. Strahlendes Blau, keine Wolke am Himmel. Blick auf die Wüste, die sich hart an den Seiten der Stadt hielt, Marrakesch war eine große Oase, die wie ein überreifer Kürbis im hellen
Licht ruhte. In der Stadt wieselte es, strömte, drängte. Die meisten Frauen, auch die jungen Damen, unterm Kopftuch, teigige, blasse Gesichter, die älteren in dunklen Umhängen, die bis über die
Knöchel reichten. Selten offene neugierige Frauenblicke.
Farben empfingen Herrn P.: die ockerfarbigen Bänder der alten Stadtmauer, deren Töne ins helle Ziegelrot glitten, ins Gelbrot, in sattes Lehmbraun. In die Altstadt fuhr man durch Stadttore ein.
Schon am nächsten Tag wird ihm Achmed sagen. „Wer hier neu baut, muss sich diesen Farben unterwerfen.“ Die neuen Fassaden wurden gestrichen, darunter verbarg sich Beton. Achmed war der
erste, der sich anbot, ihn zu fahren, ihm die Stadt zu erklären. Sein Metallzahn blinkte. Er sei ein Marrakesch-Berber, hatte er sich vorgestellt und hier geboren. Das strenge Gesicht, scharfe
Nase, freundlicher Bart, aufmerksame Augen. „Gut“, hatte Herr P. gesagt, „probieren wir es.“ Die Verständigung war schwierig. In Marrakesch wird französisch gesprochen, und das verstand Herr P.
nicht. Achmed versuchte mit ein paar englischen Brocken zu überzeugen. Das misslang. Er lachte. Und das nahm Herrn P. für den Mann ein.
COUSCOUS FÜR STÖRCHE
Am zweiten Tag sah Herr P. einen Storch. Er flog über die Mauern der Altstadt, ein Ästchen im Schnabel. Störche in Marrakesch. Davon hatte er vorher nichts gewusst. Er versuchte ihrer
Flugrichtung zu folgen und gelangte in das Gelände des ehemaligen, aber inzwischen verfallenen El-Badi-Palasts. Er drang immer tiefer in die Altstadt ein, ging an Toren vorbei, an bröckelndem
Mauerwerk, das unter dem Putz flache gebrannte Ziegelsteine zeigte. Zahlreich saßen die Störche in ihren Nestern, standen, hoben ihre Schnäbel. Störche auf den Höhen der Stadtmauer, auf Gebäuden
und Toren. Wovon ernährten sie sich? Frösche gab es hier gewiss nicht, auch keinen Feuchtgebiete.
Achmed tischte ihm am nächsten Tag eine Geschichte auf. Ein Freund übersetzte. Sie würden mit Couscous gefüttert, behauptete er, mit Reis und etwas Fleisch. Reis fressende Störche. Achmed
bemerkte seinen Zweifel, strahlte. „I´ts true, i´ts true.“ Sie bleiben das ganze Jahr über in Marrakesch, fliegen nicht nach Europa. Dass klang überzeugend. Abends las Herr P. in einem Buch
über Marrakesch, dass die Störche jedes Jahr die Stadt am 17. Juli verließen. Wer hatte hier recht?
Terror in Marrakesch
Achmed hatte ihn versetzt. Der Mann, den er geschickt hatte, missfiel Herrn P. sofort. Achmeds Auto sei kaputt, ließ er ihn wissen. Die Sitze im alten Mercedes waren verschlissen, das Innere war
ungepflegt, war voller Staub. Herr P. überlegte, ob er die Fahrt ins Ourikatal verschieben sollte. Dann ließ er es dabei. Als sie losfuhren, stellte der Fahrer Musik an. Das störte Herrn P. Er
sah gern Landschaften ohne Musik, ohne Lärm. Widerwillig stellte der Mann das Radio aus. Nur ungern hielt er an, wenn Herr P. das wünschte, um Berberdörfer zu fotografieren, einen Markt, den das
Atlasgebirge im Nebel, die Flussläufe im Dunst. Und als ihn der Fahrer zum Mittagessen in ein unverschämt teures, gähnend leeres Restaurant führte, hatte es Herr P. satt. „Nicht hier, ein
preiswertes Restaurant“, verlangte er. Dass es auch noch kräftig zu regnen begann, verdross ihn zunehmend.
Gegen Mittag in den Bergen, in einem Berberdorf, saßen Männer in einem Kaffee und hörten Nachrichten. Herr P. beobachtete, wie ihre Gesichter plötzlich erloschen. Was war geschehen? Er fragte.
Man wich ihm aus, gab keine genaue Antwort. Schlecht gelaunt kehrte Herr P. nach Marrakesch zurück. Als der Fahrer gar noch einen Bakschisch verlangte, lief ihm die Galle über. „Wofür?“, fragte
er barsch und stieg aus.
Als er die Hotelhalle betrat, war er sicher, dass etwas passiert war. Wieder wich man ihm aus. Eine Gasflasche sei explodiert, sagte einer hinter dem Empfangstresen. Im Zimmer stellte er den
Fernseher an. Die Meldung ging schon um die Welt. Terroranschlag in Marrakesch, mindestens 15 Tote, 20 Verletzte. Das Kaffee „Argana“ am Jemaa el Fna war von einer Bombe gesprengt worden. Gestern
hatte Herr P. keine 30 Meter davon entfernt in einem anderen Kaffee gesessen. Glück gehabt.
Abends suchte er den Platz auf. Er war weitflächig abgesperrt. Die Vorderfront des Kaffees war weggerissen, Tische, Sessel waren übereinander geworfen. Die Gaukler und Schlangenbeschwörer waren
verschwunden, die Freiluftrestaurants mit Planen überdeckt. Kein Hahn krähte, keine Schlange züngelte, kein Trommelwirbel dröhnte. Tausende Menschen standen stumm und schauten in Richtung
„Argana“. 17 Menschen starben. Marrakesch war tief getroffen. Später wird eine Studentin im Café „Extrablatt“ sagen, mit der er ins Gespräch gekommen war: „Wir sind ein friedliches Volk.
Ich hasse den Islamismus. Wie ein Krebs greift er nach uns.“ Das Hotel hatte die Musik in der Bar abgesetzt.
Sehnsucht nach Heiterkeit
Der Himmel wieder bewölkt, schon den vierten Tag, wieder kühl. Als er aus dem Hotel trat und auf die Straße vorging, winkte Achmed. Er strahlte Herrn P. an, als sei nichts gewesen. „Wohin
heute?“, fragte er. Und Herr P. dachte, manchmal sind sie wie die kleinen Kindlein im Garten, die sich von Jesus führen ließen. Er ließ sich zum Palais de la Bahia fahren, das Ende des 19.
Jahrhunderts errichtet worden war, von einem marokkanischen Architekten und einem französischen Ingenieur. „Es ist schlimm für Marrakesch“, sagte Achmed. „Die vielen Toten und Verletzten. Allah
hat dich behütet.“ Und er zog Herrn P.´s Kopf an seine Schulter.
Es war gut, am Tag danach das Bahia-Palais zu besuchen. Es war so heiter, grazil, so voll lichter Farben. Ein Großwesir des Sultans soll ihn für seine Lieblingsfrau Bahia, die Schöne, die
Glänzende, erbaut haben. Eine schöne Geschichte. Das Palais bestand aus mehreren Höfen und Gebäuden, die Innwände waren mit farbigen Keramiken und Marmorplatten geschmückt, kostbare, schwere
Türen mit kunstvollem Schnitzereien versehen, farbige Bögen, Palmen in Höfen, duftender Jasmin, Orangenbäume. In Marrakesch erlebte Herr P. eine Baukultur, die wieder seinen Zweifeln zusetzte. Er
traute schon seit langem nicht mehr den Berichten der Alten, den Schriftstellern und Entdeckern, die eine arabische Hochkultur rühmten, von hohem Genuss, Lebensverfeinerung und raffinierter
Schönheit berichteten. Die Wirklichkeit sah auch in Marrakesch anders aus: enge dunkle lichtarme Gassen, fensterlose Fassaden, kleine lichtarme Räume. Sollte es wirklich eine Hochkultur gegeben
haben, die der europäischen griechischen, römischen überlegen gewesen sein soll? Er blieb voller Zweifel, auch als er Marrakesch verließ. Sollte es solche Kultureinbrüche gegeben haben, die viele
vernichtet haben?
Hoffen auf Nachwirkung
Seine Woche in Marrakesch war noch nicht beendet, als USA-Spezialeinheiten Osama Bin Laden in Pakistan töteten.
Ein zweiter Versuch, die Koutoubia-Moschee zu betreten, wurde erneut untersagt. Es hatte ihn wieder befremdet. Selbst in Libyen war das nicht verboten gewesen. Was hatte ihm Marrakesch gebracht?
fragte sich Herr P.
H. hatte gesagt: „Was willst du dort? Du kennst doch arabische Länder.“ Er hatte auf eine Annäherung ans Arabische gehofft, auf neue Entdeckungen, die ihn beflügeln sollten. Während er den
Hühnchenspiel aß, gestand er sich ein: Die große Lust, in das Land einzutauchen, wie er es auf seinen Asienreisen erlebt hatte, blieb aus. Aber vielleicht würde sich aus einem längeren
Abstand eine wärmere Sicht, ein besseres Verstehen ergeben, umweht vom Duft reifer, glänzender Orangen.
Marrakesch 25. April bis 3. Mai 2011
// Texte und Fotos: Reinhard Delau.