Rätselhafte Gesichter schauen herab

 

Große Asienreise Kambodscha 2006 / Vor dem Siem Reap zum alten Angkor



Herr P. schloss einen Augenblick die Augen, als die Zwei-Propeller-Maschine der Bangkok Airways auf dem Flugplatz von Seam Reap aufsetzte. Er war in Kambodscha gelandet, zum zweiten Mal in seinem Leben. Als er aus dem Flugzeug trat und die wenigen Stufen hinunter stieg, erfasste ihn Erwartung. Er würde die dunklen Steine der Khmer-Tempel noch einmal erleben, in die steinernen Gesichter an den Türmen schauen, in das Dunkel der Heiligtümer treten, unter schattigen Bäumen Kokosmilch trinken. Für die langen steinernen Fries-Bänder an den Tempelfassaden wollte er sich diesmal mehr Zeit nehmen. Auf ihnen war dargestellt, was es schon immer gegeben hat: Kampf und Mordgeschrei, Rauch und dampfende Kessel, Tänze und Verführungen. Es war warm, angenehmen warm. Das Licht schien wie durch Seide gefiltert, und der Himmel war blassblau.
Vom Flugplatz ging es die lange Straße, die staubgraue Eukalyptusbäume säumten, Seam Reap entgegen. Vor dem Kinderkrankenhaus Trauben von Menschen. Elegante Hotels hinter Palmen. Sie waren ihm uninteressant. Er wusste, wohin er wollte, mitten in die Stadt. Als er im „Coco Nut“, in dem er im vorigen Jahr gewohnt hatte, ankam, legte er seinen Rucksack ab. Herr P. bestellte schwarzen Tee. „Bitte heiß, sehr heiß“, sagte er. Heißer Tee löschte am besten Durst. Das hatte ihm vor 30 Jahren ein palästinensischer Arzt in Kairo gesagt. Er streckte die Beine aus, lehnte sich zurück und hatte das Gefühl, angekommen zu sein. Er wusste: Das waren die schönen Täuschungen des Reisens. Man kam nirgends an, man erreichte einen Ort. Aber gerade die Täuschungen machten die Würze des Reisens aus. Ein Mädchen brachte ihm wenig später den Tee. Sie stellte die Kanne auf den derben Holztisch unter dem schattigen Verandadach und sagte: „Willkommen. Sie waren voriges Jahr hier, nicht wahr?“ Als Herr P. bestätigte, lächelte sie, als habe man sie gelobt.


Es war unübersehbar. Siem Reap, das reichlich 80 000 Einwohner zählte, expandierte in hohem Tempo. Ein neues Bankgebäude war dazu gekommen. Die Zahl der Restaurants hatte zugenommen und der Lärm. Es dröhnte aus Restaurants und Kaffees, grausam. Die Nähe zu Angkor schien dem Ort zu bekommen. Die Touristenströme nahmen zu. Und auf den Straßen knatterte es lauter. Gar einige Straßen – im Vorjahr noch unbefestigt – waren mit Asphalt belegt. In den alten, dunklen Märkten aber schien alles unverändert. Hier lockten die Früchte des Landes. Es roch nach Fisch und Fleisch, nach Weißbrot und Gewürzen, nach Suppen und Gebratenem, nach Zwiebeln und Minze. Herr P. ließ sich einen Orangensaft pressen.


Abends lernte er in einer Straßenbar Z. kennen. Und das war ein Glücksfall. Z., Historiker und Lehrer, der Kambodscha mit strengem Blick betrachtete, hatte Nürnberg denn Rücken gekehrt und verzehrte seine Rente in Siem Reap. Er war in die alten Steine der Khmer-Tempel vernarrt. Er hatte gerade ein Buch über die Tempel der Khmer abgeschlossen, schimpfte über die Oberflächlichkeiten der reisenden Journalisten und rühmte die alte Baukunst der Khmer. „Die reisenden Damen und Herren sind zu sehr auf Effekt bedacht. Nicht ganz falsch, aber allzu schnell beschrieben.“

Er war ein Mann, der das Leben in Kambodscha mit deutschem Ernst betrachtete, dennoch war der Mann sympathisch. „Es geht sehr langsam vorwärts in Kambodscha, sehr langsam“, behauptete er. „Der Krieg gegen die Roten Khmer ist vor zehn Jahren zu Ende gegangen.“ Leider sei die Korruption sehr groß. Seine Vorwürfe waren schwer. Die Bürokraten, Offiziere und Minister wirtschafteten in die eigene Tasche. Nach Deutschland würde er wohl nicht mehr zurückkehren, verriet er. Er fühle sich wohl in Seam Reap. Er bot Herrn P. eine Führung in Angkor an. Gewiss würde sie kenntnisreich sein. Herr P. lehnte dennoch ab. Er liebte es, allein zu entdecken. „Wussten Sie“, fragte er, „dass der Name Siem Reap den Platz bezeichnet, an dem die Thais geschlagen wurden.“ Er lud Herrn P. für den nächsten Tag in sein Haus ein, das er gemietet hatte.

 

Jetzt, jetzt, jetzt. Die berühmte Silhouette der fünf Türme von Angkor Wat, einst Mittelpunkt des großen Angkor-Reiches und der größte sakrale Bau Kambodschas, die lang gezogene Galerie schimmerte schwarz, in dem breiten Wassergraben, der den Tempelbezirk umgab, spiegelten sich die Farben des blassblauen Himmels. Der Tempel war dem hinduistischen Gott Vishnu geweiht. Rote und gelbe Seerosen wuchsen. Hohe Eukalyptusbäume, weiter die schattenreiche Straße entlang. Kurz danach tauchte das Südtor zum Tempelbezirk auf, das einstige Stadttor von Angkor Thom. Herr P. wusste es: Dahinter gab es links und rechts die lange Reihe der Götter und der Dämonen, freundlich lächelnde Götter, grimmig dreinschauende Dämonen. Dann reihten sich die Tempel und Mauern einander, es folgte die Terrasse der steinernen Elefanten. Herr P. bat Le Hu, langsam zu fahren. Er hatte ihn zu seinem Fahrer und Führer für die nächsten Tage bestimmt, weil er so sanft gelächelt hatte. Zehn US-Dollar pro Tag würde er erhalten.

 

Eine dunkle aufgeschichtete Steinmasse türmte sich auf: der Bayon. Herr P. schritt über große Steinplatten zum Tempel. Von den Türmen schauten die Gesichter aus verschiedenen Himmelsrichtungen, schauten von allen Seiten und von allen Türmen. Nirgends war ihrem Blick zu entkommen. Ihr ewiges Lächeln hatte etwas Entrücktes, Fernes, in sich Gekehrtes. Es verursachten Herrn P. ein leichtes Unbehagen. Er fühlte sich gemessen, gewogen, ahnte, dass er ihrem Blick nicht standhalten würde. Herr P. war weder edel noch gläubig, manchmal grob, eitel, nachtragend, aber auch liebenswürdig. Er liebte gutes Essen, Wein und Whisky, kannte seine Begierden, die er heimlich hielt, seine Lust, seine Neugier, die ihn trieb, so lange er denken konnte, die ihn auch nach Kambodscha getrieben hatte, nach Asien, vor drei Jahren zum ersten Mal. Ihr in Stein geronnenes Lächeln machte ihm deutlich, dass er das Land wohl nie verstehen würde. Und er erinnerte sich an den Österreicher, den er im vorigen Jahr kennen gelernt hatte. Er lebte in Phnom Penh, hatte eine Khmer geheiratet. Nach zwölf Jahren Ehe lautet sein Fazit. „Du begreifst Asien nie.“

 

Herr P. hatte dies als ein allzu häufiges, oberflächliches Klischee hingenommen. Der unergründliche Ferne Osten,    Faszination und Kulturleistung. In barocker Zeit in Deutschland, in Sachsen, bewundert, nachgeahmt, in Schlössern und Herrenhäusern gestaltet, vielleicht eines der schönsten Beispiele, das Lustschloss in Pillnitz, gelegen zwischen Höhen und Elbestrom, nahe Dresden. Dem fernen Orient, seiner Weisheit waren schon vielen erlegen, auch wenn sie dort nie gewesen waren. Bertold Brecht zum Beispiel. Aber unter den steinernen flachnasigen Gesichtern, die über ihm lächelten, wohin er auch schaute, kam er sich tatsächlich vor, als würde er gewogen und nicht für würdig gefunden, ins Paradies einzutreten. Aber er wollte ja nicht ins Paradies, tröstete er sich mit einem Anflug von Ironie. Müßiggang bereitet Langeweile, ja Verdruss. Herr P. zog es vor, vorerst das Innere des Bayon zu meiden, er näherte sich den langen, zahlreichen Friesbändern, die grelles heißes Licht beschien.
Die große Hauptstadt Angkor Thom wurde um 1200 ausgebaut und erweitert. In dieser Zeit entstanden in Europa die ersten gotischen Kathedralen des Hoch-und Spätmittelalters, zuerst in Frankreich, dann in England und später in Deutschland die Backsteingotik. Die Stadt war befestigt. Eine Mauer und ein Wassergraben umgab sie. In ihrem Zentrum befand sich der Tempel Bayon. Er wurde zum buddhistischen Heiligtum umgestaltet.
Die Friese am Bayon sind ein Bilderbuch von Zeit und Rauch, Kampf und Zerstörung, Sieg und Niederlagen. Man kann darin lesen, wenn man will. Und ewig ist der Krieg. Khmer-Krieger mit Speeren bewaffnet, kämpfen gegen die Thais Anfang des 13. Jahrhunderts. Elefanten, die in das Kriegsgeschehen reiten. Eine Seeschlacht auf dem See Tonle Sap tobt. Krokodile fressen die Verwundeten. Die Khmer kehren nach Siegen zurück. Aber auch freundliche Szenen schmücken die Fassaden der Galerien: dörfliches Leben, Männer und Frauen an Tafeln versammelt, Männer beim Brettspiel, Musiker zupfen an Instrumenten. Stunden bringt Herr P. an den Friesen zu.

Er entschließt sich, in das Dunkel des Tempels einzutreten. In den Räumen entkommt er den Gesichtern. Etwa 200 sollen es sein. Es riecht nach Wachs und Räucherstäbchen. Danach setzt sich Herr P. in den Schatten eines Turms, schaut von der Höhe des Tempels auf den Vorplatz. Elefanten mit Touristen ziehen vorbei. Vögel schreien laut. Immer haben sich die Herrscher und Götter, in Steinen verewigt, ganz gleich wo, ob in Ägypten, in Griechenland, in Rom Und sie haben sich als gottähnliche Wesen verstanden. Dies ist ein Band, das sie weltweit verbündet.

Als Herr P. nach Seam Reap zurückehrte, war die Sonne im Sinken. Sie tauchte das Land in warmes weiches Licht. Auf den Straßen Seam Reaps wimmelt es von Mopeds und Menschen. In der Zansi-Bar versammelten sich die Mädchen und schauten nach zahlungskräftigen Touristen aus, die Liebesdienste wünschten. Mark, ein Belgier, bereitete die ersten Gin Tonics vor. Es gehe langsam aufwärts, meinte er, als ihn Herr P. fragte, wie es sich denn im Lande lebe. Kambodscha sei eines der ärmsten Länder der Welt, aber in Siem Reap merke man dies nicht so deutlich. Die Regierung handelt vernünftig. Sie mache es den ausländischen Investoren leicht, hier tätig zu werden. Leider kämen zu wenige. Zu unsicher erscheine ihnen das Land, zu unsicher die Rechtslage. Und in Kambodscha selbst gebe es zu wenig Kapital, sei es vorhanden, werde es im Ausland angelegt. Er jedenfalls hat sich entschieden, nicht wieder nach Belgien zurückzukehren. Wieder einer, der diesem alten Kontinent den Rücken gekehrt hat.
Z. schickte ein Mädchen vorbei, seine Assistentin, die Herrn P. ins Haus fuhr. Die Nacht wurde lang. Als er nach Mitternacht in seine Herberge zurückkehrte, rief ihm J., der Eigentümer, entgegen: „My friend, nice to see you again.” Und er umarmte Herrn P., der sich erinnerte, dass sie im Vorjahr am letzten Abend in Siem Reap einige Gin Tonics zu viel getrunken hatten. Und er ahnte, dass jetzt der zweite Teil der Nacht begann. Schon wurden Gläser auf den Tisch gestellt. J. telefonierte, rief Freunde und Bekannte an. Vielleicht, dachte Herr P., kann man tatsächlich ankommen, wenn man es will. „Haben Sie bemerkt“, sagte J., „ich baue an. Das Grundstück habe ich vor sechs Jahren gekauft.“ Und er rieb sich die Hände. Heute viel, viel teurer.“ Er lächelt zufrieden und hob das Glas.
Februar 2006

Delaus Reise-Blog, Kambodscha-Reportagen
Tempelfries in Angor Wat

// Texte und Fotos: Reinhard Delau.